Anna Peper (24) aus Fischerhude ist mit dem Überklettern des Ortsschildes zu einer traditionellen Wanderschaft als Handwerksgesellin aufgebrochen, um für mindestens drei Jahre und einen Tag frei zu reisen und zu arbeiten.
Fischerhude – „Es ist ein verrücktes Gefühl, alles aufzugeben“, sagt Anna Peper (24). Wohnung, Besitz, Handyvertrag – alles aufgelöst. Behalten hat sie nur, was sie tragen kann und unbedingt braucht bei ihrer traditionellen Wanderschaft als Handwerksgesellin: Schlafsack, Wäsche, Zahnbürste. Drei Jahre und einen Tag wird die Tippelei mindestens dauern. In ihrer Handwerkskluft, mit Hut, Stock und Stoffbündeln ist die Fischerhuder Tischlergesellin seit Montag unterwegs. In den Anfangsmonaten begleitet sie Altgesellin Fanny. Die 27-Jährige ist schon länger auf Wanderschaft – für sie „eine der wenigen Möglichkeiten, heute noch Abenteuer erleben zu können“.
Im Kreis von Familie, Freunden und Kollegen ist Anna Peper am Montagnachmittag über das Ortsschild geklettert, symbolisch für das Verlassen ihres Zuhauses. Ihren Aufbruch ins Ungewisse und Unplanbare begleiten in den ersten Tagen etwa 15 Wandergesellen, die zu ihrer Losgehparty nach Fischerhude gekommen waren, so wie es bei ihnen Brauch ist.
Überhaupt unterliegt die jahrhundertealte Tradition strengen Ritualen und Regeln. Ihren Familiennamen legt die 24-Jährige für die Zeit der Wanderschaft ab: Als Wandergesellin trägt sie (wie alle) den Nachnamen „Fremde“, ergänzt um den eigenen Beruf und die gewählte Reisevereinigung. Also heißt sie nun Anna Fremde Tischlerin FBS. Letzteres steht für Freier Begegnungsschacht. Diesem Verbund gehört auch Fanny Fremde Schneiderin FBS an. Die 27-Jährige hilft Anna auf den Weg und bei den ersten Erfahrungen mit dem Reisen und Arbeiten in der Fremde.
Kennengelernt und angefreundet haben sie sich bei Treffen ihrer Reisevereinigung FBS. Anna hatte vor vier Jahren ihre Ausbildung als Tischlerin in Fischerhude und Ottersberg abgeschlossen und ein Weiterbildungsstudium Design und Gestaltung im Handwerk in Münstler angehängt. „In der Zeit bin ich auf das Thema Wanderschaft gekommen“, erzählt sie im Gespräch einige Tage vor ihrem Aufbruch. Die eigene Selbstständigkeit und Selbstverantwortung zu stärken, sich persönlich und beruflich weiterzuentwickeln, dafür scheint ihr die Tippelei ein sehr guter Weg.
Die ganzheitliche Betrachtung ihres Handwerks, neue Ansätze und Impulse durch den Austausch mit handwerkenden Leuten – „was in Münster angefangen hat, will ich auf der Wanderschaft vertiefen“, sagt Anna. Mit den Händen etwas zu schaffen, ist für sie „nicht nur eine Frage von Technik und Werkzeug, sondern eine Lebenseinstellung“. Auf ihrer Reise will sie in unterschiedlichen Handwerksbetrieben Erfahrungen sammeln und herausfinden, wie sich ihre Vorstellungen vom ganzheitlichen Handwerken von der Planung bis zur Produktion verwirklichen lassen. Nur designen oder nur Fenster bauen, so einseitig möchte sie später nicht arbeiten.
Voraussetzungen für die Wanderschaft nach alter Tradition sind der Gesellenbrief und die vollkommene Ungebundenheit: „Man muss unter 30 sein, ledig, kinderlos, schuldenfrei und ohne Vorstrafen“, zählt Wandergesellin Fanny auf. „Der gute Ruf ist das Wichtigste, was wir haben, um aufgenommen und mitgenommen zu werden“, betont sie. Dieser Ruf dürfe nie in Gefahr gebracht werden, deshalb gebe es strenge Bedingungen und feste Regeln, die den Wandergesellen ihre Freiheit und Privilegien erst ermöglichen.
Mobiltelefone sind auf der Wanderschaft nicht erlaubt, und für Transport und Übernachtung darf kein Geld ausgegeben werden. Vorwärts geht es nur zu Fuß oder per Anhalter – oder auch mal im Bus, „wenn ein netter Fahrer einen umsonst einsteigen und mitfahren lässt“, erzählt Fanny. Ihren Schlafsack rollen Wandergesellen in Kolpinghäusern, bei gastfreundlichen Privatpersonen oder unter freiem Himmel aus. Je nachdem, wo sie gerade sind und wem sie dort begegnen.
„Die Reise lebt von Begegnungen, von spontanen Situationen. Es gibt nichts Geplantes. Man kommt mit Leuten ins Gespräch, die man sonst nie kennengelernt hätte, und kriegt private Einblicke, wenn sie einen zu sich einladen“, schildert Fanny. Das freie Reisen ist das eine, aber spätestens, wenn das Geld für den täglichen Bedarf alle ist, „muss man sich wieder Arbeit suchen“.
Zwei Jahre lang hat Anna ihre Wanderschaft geplant. Und zwischendurch auch mal gedacht: „Oh Gott, ich brech’ das alles ab.“ Aber je konkreter die Vorbereitungen wurden, desto mehr „wuchs die Zuversicht und verschwanden die Zweifel“. Sich treiben zu lassen, mit ganz leichtem Gepäck zu reisen, nichts und niemandem verpflichtet zu sein außer sich selbst und den Wandergesellenregeln, das empfindet die 24-Jährige als eine große Freiheit. Und als Abschied von der Kindheit: „Es ist wie aus dem Nest zu fliegen.“
Ihren Heimatort darf sie in den Jahren der Wanderschaft nicht betreten, die Familie außerhalb des Bannkreises mal treffen aber schon. Ob und wann das sein wird, lässt sie offen. Obwohl sie ihren Zwillingsbruder sehr vermissen wird, wie Anna jetzt schon weiß. Im ersten Jahr will sie sich durch Deutschland treiben lassen, später auch in europäische Länder: „Italien, Frankreich auf jeden Fall“, sagt sie, „und Dänemark.“ Allein schon wegen des skandinavischen Möbeldesigns. Eindrücke und Erinnerungen will sie unterwegs mit Zeichnungen festhalten: So wenig Platz die Bündel auch bieten für persönliche Sachen: „Mein kleiner Aquarellkasten geht auf jeden Fall mit.“
2025-01-07T20:26:36Z